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Frank Heidtmann ist tot…
Frank Heidtmann ist am 7. November 2023 gestorben.
Er war für mich einer der prägenden Menschen meines Lebens.
Ich lernte ihn 1977 zu Beginn meines Bibliothekarstudiums an der Freien Universität Berlin kennen. An der Begegnung mit ihm hing viel meines künftigen Berufslebens.
Wahrnehmung.
Wertung.
Würdigung.
Heidtmann war für mich ein Schock.
Die erste Berührung mit dem wissenschaftlichen Bibliothekswesen nach einem Praktikum an der Bibliothek des Otto-Suhr-Instituts. Einer links-dumm verblödeten Insel ausserhalb der realen Welt.
Immerhin: Ich hatte dort  meine erste Bibliotheksliebe mit Corinna, der schönen spröden Blonden.
Heidtmann hatte die große Form, in der ersten Veranstaltung des ersten Semesters der Bibliothekarsstudenten seine erste Vorlesung sinngemäß mit den Worten zu beginnen:
„Guten Tag meine Damen. Ein Mann, der Bibliothekar wird, hat in der Regel eine seelische Krankheit. Aber das ist nicht unser Thema. Unser Thema ist: Früher hieß es, wer nichts wird, wird Wirt. Heute gilt: Einer der nichts weiß und der nichts lernen will, wird Lehrer oder Bibliothekar. Das sind Berufe, bei denen man maximal einen geistigen Verbrauch von 7 Kilokalorien pro Woche hat.“
Wir waren etwa 30 Frauen und genau 3 Männer im Erstsemester. Die Frauen sind später in grauen Tätigkeiten untergegangen oder früh vermuttert. Die Männer in niederen Führungspositionen gestrandet.
Ich war empört über das, was ich für Heidtmanns Arroganz hielt.
Ich mußte zwei Jahre im Bibliothekswesen verbleiben um zu verstehen, daß Frank Heidtmann Recht hatte. Er war einfach klug. Frank Heidtmann kannte das Leben.
Das Bibliothekswesen war nichts Eigentliches. Es war ein Hilfsangebot für die Welt.
In dieser Einschätzung traf sich Frank Heidtmann mit meinem Freund Georg Leßer-van Waveren.
Meine prägendste Begegnung an diesem Institut waren  nicht die Vorlesungen von Johannes Buder oder Detlev Skalski, beide Überleitungs-Professoren ohne Promotion, sondern Sex mit 3 Erstsemesterinnen in der Institutsbibliothek. Wenigstens Johannes Buder hat noch im Ruhestand promoviert. Ob er Sex mit 3 Erstsemesterinnen hatte, ist mir nicht bekannt. Ich vermute aber eher: Nein.
Wir hatten uns von der Seketärin Frau Gabriele Kroneberg den Schlüssel unter einem Vorwand erschlichen, um in der Bibliothek zu vögeln, während die Titularprofessoren vor sich hinstammelten und dem Restpublikum erzählten, es gäbe einen Unterschied zwischen organischer und anorganischer Chemie.
Was Frank Heidtmann  von Lehrern hielt, war mir verständlich.
Ich habe nur wenige Menschen in meinem Leben gesehen, die gleich in Rudeln so fragwürdige Gestalten waren wie Lehrer. In Hirnschleifen gefangen. Zeitlebens nie aus der Schule raus.
Frank Heidtmann erzählte gerne anekdotisch seine Aufstiegsgeschichte, er wurde am 17. November 1937, irgendwo in Vorpommern geboren (der Ort hieß wohl Liebenow? – es gibt in Berlin eine Liebenowzeile, eine sogenannte Straße), er machte eine handwerkliche Ausbildung – Schreiner? Tischler? Zimmermann? – ich weiß es nicht mehr- studierte dann Soziologie und hatte eine recht merkwürdige akademische Karriere, innerhalb er direkt nach der Promotion 1974 zum Professor an der Freien Universität berufen wurde. In Berlin ging immer wirklich alles. Habilitation galt in Berlin als spiessig. Immerhin wurden am Institut für Bibliothekarausbildung solide Diplom-Bibliothekare erschaffen, was man von der Nachfolgeorganisation an der Humboldt-Universität mit 30 Mal soviel Personal nicht sagen kann. Dort werden Bibliothekswissenschaftler ausgebildet, die niemand braucht und die niemand kennt und die niemand einstellen wird.
Ich nahm nach meinen ersten Verstörungen Frank Heidtmann als den wirklich einzigen autonomen Charakter an diesem seltsamen Institut wahr, welches sich mir als jungem Menschen als eine Sammelstelle für gescheiterte Charaktere unter den Dozenten darstellte. Professoren, die keine Promotion geschafft hatten, als Tiefpunkt nicht mal ein Abitur. Aber alles große Wichtigtuer. Durch Überleitungsgesetz zu Professoren ernannt. Mit dem Verschenken von Professorentiteln war Berlin in den 1970ern auf Platz Eins noch vor Hamburg. Aber in Berlin konnte auch ein Otto Kühling eine A13-Stelle erhalten. Im restlichen Deutschland mit Kühlings Fähigkeiten einfach unmöglich.
Frank Heidtmann war über allem schwebend.
Er machte wenig Hehl aus seiner Verachtung für seine Kollegen und wenig Hehl aus seiner Verachtung für den gesamten bibliothekarischen Berufsstand. Frank Heidtmann war ehrlich. Das unterschied ihn von den Wichtigtuern.
Er hatte Recht.
Heidtmann sprach offen aus, was ich damals dachte: wir hatten im Institut für Bibliothekarausbildung an der Freien Universität Berlin eine hohle Kopie akademischer Rituale vor uns, die dann später an der Humboldt-Universität eine nahtlose Fortsetzung fand, als das Institut an die Ostzone verschenkt wurde und sich nun auch noch „Institut für Bibliothekswissenschaft“ nennen durfte. Genau so gut hätte man ein Institut für Einwohnermeldeamtswissenschaft einrichten können. Als Symbol für die Übernahme der DDR wurde das Institut dann auch noch von einem Amerikaner übernommen, den die meisten Bibliothekare für völlig inkompetent hielten. Amerika wieder einmal als geistlose Besatzungsmacht.
Frank Heidtmann war für mich als junger Mensch eindrucksvoll: ein Hüne von Mann mit großem Bart, großen, aber nicht theatralischen Gebärden. Ein Mann von Format.
Irgendwann trat er, ein einziges Mal nur, glatt rasiert vor uns nach den Semesterferien auf. Die grauen Mädchenmäuse fanden, er sähe grausam aus ohne Bart. Fast brutal. Ich fand ihn grandios. Klarer Mann, klarer Blick.
Eine meiner beiden Lieblingsbegegnungen mit Frank Heidtmann hatte ich  auf einem Bibliothekartag, wie sich die große Jahrestagung des kleinen Berufsstandes nennt. Dort stand auf dem Podium eine trostlose graue Gestalt, Dicscountprofessor aus Köln, die mit sich überschlagender Stimme rief: „Ja, die Bibliothekare des Höheren Dienstes haben eine ganz besondere Position.“
Frank Heidtmann rief entspannt aus der letzten Reihe: „Ja, die sind alle in der Wissenschaft gescheitert.“
Die Bibliothekare des höheren Dienstes sind in der Wissenschaft gescheitert. Welch richtiger Gedanke.
Was akademische Bruchkarrieren angeht, sind Bibliotheken eine wunderbare Reste-Rampe. Wer ansonsten gar nichts mehr werden kann, wird eben Bibliothekar im Höheren Dienst. Oder Professor an einer Fachhochschule.
Wie lange ich diesen Satz in meinem Berufsleben in mir getragen habe, weiß ich nicht.
Aber er ist unermeßlich wahr. Der Bibliothekar des Höheren Dienstes ist in der Regel eine akademische Katastrophe und auf dem Arbeitsmarkt anderweitig gar nicht mehr vermittelbar. Fachreferent für irgendwas oder Taxifahrer. Oder Discountprofessor.
Danke, Frank Heidtmann für diese Erkenntnis. Sie hat mich ein ganzes Berufsleben lang begleitet. Lehrerinnen für Sport und Deutsch, die im Lehramt gescheitert waren und dann Fachreferentin für alle möglichen Fächer wurden und eine Hölle als Vorgesetzte, weil sie wirklich gar nichts konnten.
Meine zweite Lieblingsbegegnung mit ihm war komplexer.
Die dicklichen Jungfern unbestimmbaren Alters (also zwischen 20 und 49), die mit mir im Seminar saßen, probten den Aufstand. Sie wollten streiken, weil Frank Heidtmann zu viele Fremdworte in seinen Vorlesungen verwende. Die pickeligen übergewichtigen Jungfern der Grelka-Liga riefen den Streik gegen Heidtmann aus.
Frank Heidtmann ging in sein Büro, und holte einen Karton mit Autorenexemplaren seines prüfungsrelevanten Fachbuches und bot ihn mit 10% Autorenrabatt zum Sofortkauf an. Der Stoff der bestreikten Lesung sei prüfungsrelevant.
Er ginge jetzt heim.
Frank Heidtmann.
Ein autonomer Charakter.
Ich war einige Male in seiner Wohnung in der Laubacher Straße 6 in Berlin Friedenau.
Frank Heidtmann war bereit, meine Abschlußprüfung im Prüfungsfeld „Bibliotheksbezogene Fächer“ in einem Orchideenfach, der Viktimologie, abzunehmen. Dafür bin ich ihm sehr dankbar, auch wenn ich meine Wahl für dieses Fach 44 Jahre später für einen Fehler halte. Die sogenannte Forschung zur Viktimologie schlußfolgert etwa „Nicht der Täter sondern das Opfer ist schuld am Verbrechen.“
Nach dieser Logik wäre heute die Gesamtkriminalität in Deutschland stark reduziert, wenn die Bio-Deutschen einfach ausgewandert wären und das Land dem Islam überlassen hätten. Dann wäre hier alles Koran-friedlich. Immerhin habe ich dieser Prüfung vielfältige Kontakte zu Wissenschaftlern und eine Veröffentlichung in einem renommierten Verlag zu verdanken.
Frank Heidtmann: Erst nach dem Studium las ich seine Bücher. Manche davon wirkten auf mich zusammengestrickt mit studentischer Vorarbeit, die er aber immer ehrlich benannte.
Seine wirklich eigenen Bücher zu Photographie sind genial.
Ich war einer der ersten, die seine Buchkunstobjekte sehen durften, die er aus Büchern gestaltete, die anschließend nicht mehr lesbar waren und somit eine neue Sicht auf das Medium Buch ermöglichten. Bücher, die man nicht mehr lesen kann.
Nach dem Studium erteilte er mir in seiner Zeit als Dekan einige der raren Lehraufträge für das Institut für Bibliothekarausbildung, die einen guten Teil des Budgets für andere Lehraufträge verbrauchten, was  Heidtmann aber billigend in Kauf nahm.
Er lud mich in sein Büro zur Vorbesprechung meiner Lehraufträge ein, servierte mir Apfelkorn, den er aus einer fingierten Lexikonrückwand an das Licht holte und zeigte mir seine Photographien.
Heidtmann war ein unglaublich guter Photograph.

Er hätte mit seiner Kunst eine ganz andere Karriere einschlagen können. Er hat faszinierende Photo-Bücher veröffentlicht, von denen die dumpfen Bbliothekare wahrscheinlich keines wahrgenommen haben.




Frank Heidtmann war für mich einer der wenigen wirklich autonomen Menschen die ich traf.
Ich bin ihm sehr dankbar.